Berliner Originale – Ein Streifzug durch Neukölln am Wildenbruchplatz …

Kiezreportage Neukoelln

Neukölln am Wildenbruchplatz umfasst den nordöstlichen Teil des Ortsteils Neukölln, vom nördlichen Neuköllner Schifffahrtskanal bis zum östlichen S-Bahn-Ring, zur südlichen Sonnenallee und westlichen Wildbruchstraße. Man könnte auch sagen: die Hälfte von Neukölln, wie es bis zur Bezirksreform um die Jahrtausendwende bestand.

„Is’ doch so, man lebt nur einmal, oder?“ fragt Andreas. Der Mann, der sich und zwei Freunde nur mit Vornamen vorstellt, fährt mit seinen Zeigefingern waagerecht durch die Luft. Alle drei sind angetrunken und haben die Nacht durchgemacht. Jetzt sitzen sie im Café Zimt und Mehl in der Wildenbruchstraße und blinzeln in die helle Morgensonne. Vor ihnen stehen leere Flaschen und ein gefüllter Aschenbecher.

Miss Kempinski blickt auf eine Tanznacht im Club Schwuz zurück. Die etwa 40-jährige Transsexuelle mit Sonnenbrille, dick gepudertem Gesicht, leichtem Kleid und hohen, schmalen Absätzen bereut: „Die wollten im Schwuz nicht Depeche Mode spielen!“ Nicht einmal deren Song „Just Can’t Get Enough“ (übersetzt: Ich kann nicht genug bekommen) Sie schwenkt ein Sektglas. Sonst sei alles gut.

Andreas öffnet eine Bierflasche an einer Kante des Holzstuhls unter sich. Was ist das für ein Viertel um den Wildenbruchplatz? „Na, Neukölln!” antwortet Gabriel, rund 35, der sich aus Alufolie einen goldenen Fingerhut gebastelt hat. Er zeigt auf die Brücke über den Neuköllner Schifffahrtskanal wenige Meter von sich entfernt. In großen Buchstaben sind hier Graffiti an das steinerne Brückengelände gesprayt. Eines bezieht sich unbestimmt auf die Stadt Palermo in Süditalien. „Schön, nicht?“, fragen sie zurück.

Kann man hier auf die Straße gehen, wie man möchte? In einer Jogginghose, mit einem Anzug, wie auch immer man möchte? Andreas zuckt mit den Schultern. Nach einer Weile sagt er: „Ich find Neukölln nicht so tolerant.” Er zog vor gut fünf Jahren aus dem Allgäu nach Berlin. Weil? Gabriel hakt ein: „Schlipse wollen wir hier nicht!” Miss Kempinski wendet ein: „Ich habe vier Schlipse. Ich trage die aber nicht!”, sagt sie. Andreas fährt fort: „Die Anwohner verdrängen zunehmend die Sinti und Roma, die im Park übernachten. Sie sollen weg.” Der Mittdreißiger wirft einen kurzen Blick auf den Wildenbruchplatz zu seiner rechten Seite. Der Platz ist kein üblicher Platz. Er heißt zwar Platz, besteht allerdings aus einem dichten Park.

Leben am Fluss

Ein langer Uferweg führt an seiner nördlichen Seite am Neuköllner Schifffahrtskanal entlang. In dem Parkstück wachsen große alte Bäume mit breiten Baumkronen neben jungen nachwachsenden Bäumen. Bis wenige Meter über der Erde finden sich hohe Büsche und Sträucher an Brennnesseln, wachsen Löwenzahn und viele sich selbst überlassene Wildpflanzen. Sie alle umgeben eine mittelgroße Wiese in der Parkmitte.

Tatsächlich übernachten täglich Sinti und Roma hier. Die Büsche und Bäume bieten etwas Schutz vor Witterung und Einblicken. Frühmorgens, wenn die meisten AnwohnerInnen in dem Viertel noch schlafen, holen sie sich Wasser aus einem Spielbrunnen auf dem Spielplatz. Sobald die AnwohnerInnen aufwachen und nach draußen gehen, sind sie nur noch vereinzelt sichtbar.

In das Café kommen inzwischen Mütter mit Kinderwagen zum Brötchenkaufen und Frühstücken. Eltern mit Kleinkindern stellen sich an. Ein Kommen und Gehen. Eine Kellnerin navigiert sich mit schwerem Tablett neben einer Frau mit Hund vorbei über die Straße zu den Tischen am Flussufer. Mal scheint die Sonne, mal ziehen Wolken vorbei. In der vorbeilaufenden Wildenbruchstraße reiht sich ein Altbauhaus an das nächste.

Vor einem Haus an der Ecke zur Laubestraße schreit ein bärtiger Mann einem jüngeren entgegen: „Ich will dich hier nicht!”, der Angeschriene geht trotzdem in die Glücksspielstätte, vor der der Bärtige steht. Kurze Zeit später scheppert es drinnen. Einige Straßen weiter landet aus bei dem Verein Islamisches Kultur- und Erziehungszentrum eine Dose Limo aus dem dritten Stock und gluckert auf den Hofboden. Mindestens 50 Paar Schuhe unterschiedlichster Größe und einige Kinderwagen stehen unten im Haus. Eine Geräuschkulisse aus Lachen, Kinderrufen und Gesprächen von Erwachsenen dringt aus geöffneten Fenstern.

„Hier ist das richtige Neukölln”

Auf einem Spielplatz in der Nähe schiebt eine Frau vorsichtig ein Baby auf einer breiten Netzschaukel hin und her. Drei Straßenecken weiter sieht eine Seniorin einen Karton mit Kleidung zum Verschenken durch. An der Sonnenallee fährt ein Schwung TeilnehmerInnen der berlinweiten Sternfahrt von RadfahrerInnen vorbei. Harald, um die 70 Jahre alt, steht an der Weserstraße Ecke Finow-Straße. Er unterhält sich mit einem Nachbarn. Seine gräuliche, wohlgenährte Dogge Lexi liegt neben ihm auf dem Bordstein.

Harald wohnt seit über 50 Jahren in dem Viertel um den Wildenbruchplatz. „Hier ist das richtige Neukölln!“, sagt er. Damit meine er, dass hier das lange Zeit über gewachsene Neukölln sei. Anders als das zusammengewürfelte Neukölln, erzählt er weiter, das durch die Bezirksreform zur Jahrtausendwende aus verschiedenen, vorherigen Bezirken zusammengeschlossen wurde.

Um die Weserstraße und den Wildenbruchplatz heißt Neukölln seit rund einhundert Jahren so. Seit das Gebiet von Rixdorf vor Berlin in Neukölln in Berlin umbenannt wurde. Harald ist eine der Kiezgrenzen hier. Er beobachtet die Veränderungen und hilft, wenn er kann. Man kennt ihn, den Senior mit den drei Kindern und fünf Enkeln. Er habe noch die Zeit miterlebt, wo es an der unweit entfernten Grenzallee nennenswerte Industrie gab. Als die kleinen Geschichte in den untersten Etagen der Straßenblöcke noch florierten. Als im Park am Wildenbruchplatz noch allabendlich eine Glocke geläutet und der Park abgeschlossen wurde.

„Ein kleiner?”, fragt ein Freund von Harald, der ihn passiert und zum nah gelegenen Spätkauf geht. „Ja, einen kleinen bitte”, antwortet Harald. Der Freund geht in den Spätkauf, der von außen geschlossen aussieht. Der allerdings trotzdem geöffnet hat. Laut Gesetz dürfte die Betreiberin das sonntags seit einigen Monaten eigentlich nicht mehr. Die Regelung werde von den AnwohnerInnen allerdings nicht geschätzt und so passen alle solidarisch auf, dass das Ordnungsamt diesen Regelbruch übersieht. Haralds Freund kommt aus dem Spätkauf wieder und gibt ihm den Kaffee.

Bis zum Ende

Das Viertel sei nicht anonym, erzählt Harald: „Man grüßt sich.“ Man habe Teil am Leben um einen herum und spüre den Wandel. Heute, wo viele ältere AnwohnerInnen wegziehen oder wegsterben. Ein Teil des Lebens in Neukölln geht auf diese Weise unumkehrbar verloren. Bei zwei verstorbenen Senioren in der Finowstraße sei eine seiner Töchter ihre ersten Schritte gelaufen, so Harald.

Von einer Oma aus einer Parterrewohnung in der Weserstraße, einem echten Original, sei er regelmäßig zum Essen eingeladen worden. Er spricht von Oma trotz fehlender Verwandtschaft. Sie sei ein echtes Original gewesen. In ihrem Beisein musste er bezeugen, dass er das Essen auch wirklich isst. Als er zu ihrer einstigen Wohnung in die Weserstraße hinübersieht, füllt sich sein linkes Auge mit Flüssigkeit.

Zurück am Café Zimt und Mehl in der Wildenbruchstraße. Andreas, Gabriel und Miss Kempinski sitzen selbst am frühen Nachmittag noch an der Ecke. Andreas wankt beim Aufstehen, Gabriel schiebt sich ein großes Stück Donauwelle auf einmal in seinen Mund und hört eine Weile lang auf, zu kauen. Miss Kempinski weint. „Ich hab ihn trotzdem verloren!“, sagt sie. Was auch immer das genau bedeutet. Sie möchte es nach der langen Tanznacht während des Ausnüchterns am Sonntag nicht erzählen. Gutes Ausschlafen.

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