Ein Ort wie kein anderer

Der zentrale Ort des Deutschen Bundestags ist das Reichstagsgebäude in Berlin-Mitte, mitten im Regierungsviertel, umgeben von Spree, Brandenburger Tor und dem Großpark Tiergarten.

Ingo Pehla schaut in die Runde. Der etwa 45-Jährige wartet bei milden Temperaturen vor der Sicherheitskontrolle des Reichstagsgebäudes mitten auf’m Gehweg auf Kundschaft (22. August). Er ist einer von vielen Rikscha-Fahrern in Berlins Mitte, Rikscha Nr. 3.  Sie kutschieren Berlin-BesucherInnen zwischen Sehenswertem umher. Keine Kundschaft in Sicht. Dafür vieles anderes: der mehrere Fußballfelder große Platz der Republik. Eine große grüne Wiese mit rechteckigen Hecken an den Rändern, umzäunt von zwei Meter hohen Absperrgittern. Dann das Monument Reichstagsgebäude. Vor dem Reichstagsgebäude stehen TouristInnen aus aller Welt in kleineren und größeren Gruppen. Sie warten vor den Sicherheitskontrollen, fotografieren Leute mit Smartphones, Tablets und Digitalkameras. PolizistInnen laufen in der Sicherheitszone vor dem Gebäude auf und ab. „Das steinerne Ding da.“ Eine Laufgruppe joggt hintereinander in neon-orangenen Shirts zügig über den Platz. Ihnen hinterher fährt eine Frau mit rhythmischer Fitnessmusik aus einem Musikverstärker auf einem Lastenrad.

„Das steinerne Ding da.“, erzählt Ingo Pehla. Er zeigt auf das Reichstagsgebäude. Das habe ihm früher besser gefallen. Als noch kleine Dächer auf den vier Seitentürmchen standen. Statt den vielen Fahnen heute: eine Fahne pro Türmchen. Dann noch eine EU-Fahne und die 28,5 Meter hohe Einheitsfahne vor dem Gebäude. Eigentlich ist der Radtaxifahrer subtil in seiner Ausdrucksweise. Er malt, wenn er nicht fährt und er hat Architektur studiert. Nun, wer weiß, eine Idee hinter Kunst ist ja, durch einen anderen Blick Abstand zu Gewohntem zu bekommen, sodass wieder besser wahrgenommen werden kann. Jedenfalls, was ist das steinerne Ding Tag für Tag anderes als ein Teil des Berliner Alltags? Jeden Tag passiert hier Gleiches: Berlin-BesucherInnen kommen, fotografieren, stellen sich in Schlangen an, durchlaufen die Kontrollen zur Sicherheit und gehen die Glaskuppel hoch und wieder runter. Durch Wiederholung entstandene Normalität. Nichtsdestotrotz wurde genau an diesem Ort, in diesem Haus mit architektonischen Stilen aus Renaissance, Barock und Klassizismus Geschichte geschrieben. Geschichte, deren Folgen die Bundesrepublik prägen.

Vom Exerzierplatz zum Bundestag
Einst war hier nur Wald vor Berlins Stadttoren. Dann kam das Licht, tschuldigung, bisschen weiter: dann legte das preußische Militär hier einen Exerzierplatz an. Deutschland gab es damals noch nicht. Nicht einmal Vorgängerstaaten. Damals gab es noch Fürstentümer, 37 Stück, sowie vier Freie Städte. Sie formten 1815 das Bündnis Deutscher Bund. Daraus wurde 1871 das Deutsche Kaiserreich. Ein Kaiserreich, das ein Parlament mit Abgeordneten bildete: den Reichstag. Den Namen Reichstag gab es zwar schon vorher für das bundesweite gemeinsame Tagen. Allerdings wurde es erst im Vorgängerstaat Kaiserreich parlamentarisch. Ein Gebäude musste her. Nach langem Diskutieren und Planen, aber fernab jedweder Planung für einen Flughafen BER, bauten hunderte Bauarbeiter auf dem heutigen Platz der Republik. So entstand das erste und noch heute zentrale Parlamentsgebäude hierzulande: 137 Meter lang, 97 Meter breit, 40 Meter hoch.

„Dem Deutschen Volke“
Rund 20 Jahre nach seinem Bau kam an seiner westlichen Front die große Portalinschrift „Dem Deutschen Volke” dazu. Über dem Plenarsaal bekam das Haus eine Kuppel. Deren 800 Tonnen schwerer Neubau aus Glas und Stahl haben bis heute Millionen von Menschen besucht. Heute, wo das Gebäude offiziell Reichstagsgebäude heißt. Nicht Reichstag allein, nicht Plenargebäude, nicht anders. Hier tagen die 630 Abgeordneten des Bundestages im 1.200 Quadratmeter großen Plenarsaal. Aus politischer Sicht liegt hier das Zentrum der Bundesrepublik Deutschland. Ingo Pehla schlägt vor, dass die Reportage über Rikschas weitergeht. Er klingelt energisch an seiner Rikscha-Radklingel. die umherstehenden Berlin-BesucherInnen schauen sich kurz um, und wenden sich dann lieber wieder dem Warten, Fotografieren und Schauen zu. Nein danke, Rikschas sind hier nicht das Thema. Thema ist das, was hier passierte, was bis heute prägend nachwirkt. Was war das noch, das Zusammentreffen tausender Männer auf dem Platz am Abend vor dem Ersten Weltkrieg? Nö. Wohl aber das Ausrufen der Weimarer Republik. Kaiser weg, erste deutsche Republik da SPD-Politiker Philipp Scheidemann stand hier am Westportal an einem Fenster und rief gegen 14 Uhr am 9. November 1918 vor einer Masse an streikenden Arbeitern die erste deutsche Republik aus. Kurze Zeit später floh der deutsche Kaiser in die Niederlande. Das Kaiserreich war Geschichte. Was noch?

Am 27. Februar 1933 brannte das Gebäude großenteils ab. Die Nationalsozialisten nahm das als Anlass, den Staat in ihrem menschenfeindlichen Sinn zu verändern. 1945 hisste die Sowjetarmee hier auf dem Gebäude ihre erste rote Fahne nach dem Sieg der Alliierten über die Nationalsozialisten. Noch was? „Ihr Völker der Welt“ Hier hielt SPD-Politiker Ernst Reuter seine historische Rede, in der er um Hilfe für das zerstörte Berlin rief. Als die Sowjetarmee die Stadt durch eine Blockade von der Außenwelt komplett zu erobern versuchte. „Ihr Völker der Welt, schau auf diese Stadt!”, rief er vor der Ruine Reichstagsgebäude vor rund 300.000 Menschen. Ihm ward geholfen. Die Mauer zur DDR sollte später direkt hinter dem Gebäude verlaufen: Grenzgebiet. Erst nach der Wende am 4. Oktober 1990 tagte der Bundestag wieder hier im Haus.

Am 24. September findet hier neben der Großveranstaltung Marathon die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag statt. Rund 61,5 Millionen Deutschen sind wahlberechtigt. Das sind mehr als 200 Mal so viele Menschen wie DemonstrantInnen damals bei Ernst Reuter. An dem vom Platz der Republik aus weit sichtbarem Himmel über Berlin geht die Sonne zwischen lockeren Wolkenfeldern unter. Ingo Pehla tritt in seine Pedale. Er fährt ohne Kundschaft weg. Über die kleinen Pflastersteine auf dem Platz der Republik vorbei am Westportal des Reichstagsgebäudes schnurstracks zu auf’s Bundeskanzleramt. Oder auch nicht. Vielleicht parkt er sein Gefährt ja irgendwo in der Nähe. Is ja schließlich (Feier-) Abend.Monument im politischen Zentrum der Bundesrepublik: das Reichstagsgebäude

(Artikelfoto: Monument im politischen Zentrum der Bundesrepublik: das Reichstagsgebäude,  Foto:© Jeanette Tust)

 

 

Dieser Inhalt ist nur für registrierte Nutzer sichtbar. Wenn Sie sich bereits registriert haben, melden Sie sich bitte an. Neue Nutzer können sich weiter unten registrieren.

Anmelden

drei + vierzehn =